Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich träte aus meiner Zelle
gelassen und heiter und fest
Wie ein Gutsherr aus seinem Schloss.
Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich spräche mit meinen Bewachern
frei und freundlich und klar,
als hätte ich zu gebieten.
Wer bin ich? Sie sagen mir auch,
ich trüge die Tage des Unglücks
gleichmütig, lächelnd und stolz,
wie einer der Siegen gewohnt ist.
Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?
Oder bin ich nur, was ich selbst von mir weiß?
Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,
ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle,
hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen,
dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe,
zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung,
umgetrieben vom Warten auf große Dinge,
ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,
müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen,
matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?
Wer bin ich? Der oder jener?
Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer?
Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler
und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?
Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer,
das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg?
Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott,
Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott.
Dietrich Bonhoeffer
Annäherung an ein Gedicht
Dietrich Bonhoeffer, der kurz vor seiner Hinrichtung im Konzentrationslager Flossenbürg ein Gedicht schrieb, stellte darin die eindringliche Frage: „Wer bin ich? Dieser oder der Andere?“ Diese Frage beschäftigte ihn zutiefst. Am Ende seines Gedichts kommt er zu der Erkenntnis: „Wer bin ich? Sie verspotten mich, sie verspotten mich mit meinen einsamen Fragen. Wer auch immer ich bin, Du weißt, oh Gott, ich gehöre Dir“ [Briefe und Aufzeichnungen aus dem Gefängnis, 448].
Trotz seiner physischen Gefangenschaft war Bonhoeffer sich der Tatsache bewusst, dass die Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“ nicht innerhalb des „Selbst“ zu finden ist. Um sich als Mensch wirklich zu verstehen und zu schätzen, muss man dem Gefängnis des Ego entkommen. In einem Brief aus dem Jahr 1944 schrieb er: „Wenn man völlig darauf verzichtet hat, etwas aus sich zu machen …, dann wirft man sich in die Arme Gottes.“ Diese Hingabe sieht er als den wahren Glauben, als „Metanoia“ – die Bekehrung, die einen zu einem Menschen und Christen macht [Briefe, 369].
Das Beispiel von Bonhoeffer sowie anderer Märtyrer des Nationalsozialismus, wie Alfred Delp und Edith Stein, zeigt, dass es nur einiger außergewöhnlicher Persönlichkeiten bedarf, um einer Gesellschaft, die sich in moralischem und spirituellem Verfall befindet, ihre wahre menschliche Identität zurückzugeben [Voegelin, Hitler und die Deutschen, 17]. Diese Persönlichkeiten machten sich nicht der „Sünde der Abstraktion“ schuldig. Stattdessen lebten sie eine Existenz, die sich auf das Wesentliche des Menschseins konzentrierte, und zeigten durch ihr Leben, was es bedeutet, wirklich „eine Person“ zu sein.
Schöpfung und Sündenfall
Im Wintersemester 1932/33 hielt Dietrich Bonhoeffer Vorlesungen an der Universität Berlin, in denen er theologisch die Schöpfungsgeschichte in Genesis 1-3 reflektierte. Diese Vorlesungen wurden später unter dem Titel Schöpfung und Sündenfall veröffentlicht. Diese Zeit war von politischer und gesellschaftlicher Instabilität geprägt: Die Weimarer Republik war zusammengebrochen, das Dritte Reich erhob sich. Inmitten dieser Unruhe forderte Bonhoeffer seine Studenten auf, ihre Aufmerksamkeit auf das Wort Gottes zu richten, das die einzige Wahrheit sei.
Historisch gab es im Christentum immer wieder Tendenzen, das Alte Testament zu marginalisieren – so etwa im 2. und 3. Jahrhundert und wieder während des Dritten Reiches im Kontext des aufkommenden Antisemitismus. Doch Bonhoeffer hielt an der Bedeutung der Schöpfungsgeschichte fest, da sie zentrale Fragen über unsere Identität und unsere Beziehungen zueinander stellt.
Für Bonhoeffer ist der Mensch von Natur aus ein soziales Wesen. Gottes Identität wird durch das „Du“ des „Anderen“ vermittelt. Das biblische „Ebenbild“ Gottes, sagt er, ist die „Relation“. Es ist die Beziehung zwischen einem „Du“ und einem „Ich“, eine „Analogie der Relation“. Die Ähnlichkeit zwischen Gott und Mensch besteht in dieser Beziehung, die uns zeigt, wer Gott in unserer Mitte ist [Schöpfung und Sündenfall, 64].
Die Erfahrung des Sündenfalls bedeutet, dass der Mensch diese Beziehung und seine Rolle in Gottes Schöpfung vergisst. Bonhoeffer erklärt: „Das Zentrum wurde betreten…Jetzt steht die Menschheit in der Mitte, ohne Grenzen. In der Mitte zu stehen bedeutet, aus seinen eigenen Mitteln zu leben…Keine Grenzen zu haben bedeutet, allein zu sein…er braucht den Schöpfer nicht mehr“ [115].
In der Ideologie Hitlers führte diese Haltung zur Schaffung einer neuen Rasse von „Übermenschen“, die von der universellen Menschheit losgelöst sind. Der Mensch wird seiner göttlichen Herkunft beraubt und „entmenschlicht“. Eine Gesellschaft, die sich in eine Welt totaler Immanenz stürzt, verliert den Bezug zum „Jenseits“ und zu Gott. Bonhoeffer betont jedoch, dass wir durch Christus versöhnt und „zu einer neuen Menschheit“ neu geschaffen werden [Sanctorum Communio, 107]. In Jesus Christus „wurde Gott Mensch“, und wir werden frei, „wirklich Menschen zu sein“. Christsein bedeutet für Bonhoeffer nicht, über das Menschliche hinauszugehen, sondern „mitten im Menschlichen“ zu leben – in einer Existenz, die für Gott und für andere Menschen gelebt wird [Ethik, 400].
Die Priorität des Anderen
Bonhoeffers Auffassung von Christsein lässt sich als „Für-andere-da-sein“ beschreiben. Dies ist die wahre Erfahrung der Transzendenz. Gott wird in Christus eins mit uns und gibt uns unser ursprüngliches Bild als menschliche Personen zurück. Glauben bedeutet für Bonhoeffer, „an diesem Sein Jesu teilzuhaben“ und durch das Leben für andere unsere Beziehung zu Gott neu zu entdecken. Das Transzendente zeigt sich nicht in unerreichbaren Aufgaben, sondern in der Begegnung mit dem Nächsten – „Gott in Menschengestalt!“ [Briefe, 485].
Dieses für andere Leben hat seinen Preis. Bonhoeffer spricht von „kostbarer Gnade“, die er im Gegensatz zu „billiger Gnade“ sieht, die leichtfertig angeboten wird. Jesus zahlte den höchsten Preis, indem er für den Anderen lebte und am Kreuz starb. Ebenso zahlte Bonhoeffer mit seinem eigenen Leben. Kurz vor seiner Hinrichtung sagte er: „Dies ist das Ende. Für mich der Anfang des Lebens.“
Neue Formen der Gemeinschaft
Am Weihnachtsabend 1943 schrieb Bonhoeffer einen bewegenden Brief an seine Freunde Renate und Eberhard Bethge. Darin reflektiert er über Trennung und Abwesenheit. Er schreibt: „Die Abwesenheit eines geliebten Menschen kann durch nichts ersetzt werden…Man muss sie einfach bewahren und ertragen.“ Diese Leere zu akzeptieren, bedeutet, echte Gemeinschaft zu bewahren, auch wenn sie schmerzlich ist [Briefe, 217-219].
Für Bonhoeffer ist wahres Menschwerden ein Prozess, der über den Moment hinausgeht. Gemeinschaft kann auch in der Abwesenheit erlebt werden. In einem weiteren Brief von 1944 betont er, dass unser Leben nur Sinn hat, weil „ein Mensch wie Jesus gelebt hat“. Und dies ist die Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“ – im Wissen, dass wir ganz Gott gehören.
Struktur und Inhalt
Das Gedicht besteht aus mehreren Strophen, in denen Bonhoeffer sein äußeres Erscheinungsbild und das Bild, das andere von ihm haben, mit seinen eigenen, inneren Gefühlen vergleicht. Die freie Versform unterstützt den Ausdruck der inneren Unsicherheit und Zerrissenheit.
1. Strophe
Zu Beginn beschreibt Bonhoeffer, wie er von anderen wahrgenommen wird:
„Wer bin ich? Sie sagen mir oft, ich trete aus meiner Zelle / gelassen und heiter und fest / wie ein Gutsherr aus seinem Schloss.“
Andere sehen ihn als stark, ruhig und unerschütterlich – ein Bild, das er sich selbst nicht zuschreiben kann. Diese Diskrepanz zwischen äußerer Fassade und inneren Empfindungen steht im Zentrum des Gedichts.
2. Strophe
Bonhoeffer stellt die Wahrnehmung anderer infrage:
„Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen? / Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?“
Hier bringt er den Konflikt zwischen der fremden Wahrnehmung und seinem eigenen Selbstbild auf den Punkt. Die Frage nach seiner wahren Identität ist der rote Faden, der das Gedicht durchzieht.
3. Strophe
In der dritten Strophe wird Bonhoeffers innere Verunsicherung noch deutlicher:
„Unruhig, sehnsüchtig, krank, / wie ein Vogel im Käfig.“
Im starken Gegensatz zu der in der ersten Strophe beschriebenen Gelassenheit, fühlt er sich gefangen – sowohl physisch im Gefängnis als auch emotional in seiner Unsicherheit und seinen Zweifeln. Das Bild des „Vogels im Käfig“ symbolisiert diese innere und äußere Gefangenschaft.
Themen und Motive
Identitätskrise und Selbstzweifel
Das zentrale Thema des Gedichts ist die Identitätskrise. Bonhoeffer stellt sich die existenzielle Frage: Wer bin ich wirklich? Diese Frage wird durch seine Gefangenschaft und die ständige Bedrohung des Todes intensiviert. Die Spannung zwischen äußerem Schein und innerem Sein spiegelt die Unsicherheit wider, die viele Menschen in Krisenzeiten erleben.
Gefangenschaft
Das Motiv der Gefangenschaft zieht sich durch das Gedicht. Die physische Inhaftierung im Gefängnis wird zum Symbol für Bonhoeffers innere Gefangenschaft in seinen Gedanken und Gefühlen. Seine Freiheit scheint durch äußere und innere Schranken gleichermaßen eingeschränkt.
Gottesbezug
Trotz aller Selbstzweifel endet das Gedicht in einer Rückkehr zu Gott:
„Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!“
Dieser Schluss bringt die theologische Dimension des Gedichts auf den Punkt. Auch wenn Bonhoeffer sich seiner eigenen Identität nicht sicher ist, findet er Trost und Halt im Glauben. Er erkennt, dass sein wahres Selbst von Gott gekannt ist, selbst wenn er es nicht immer selbst versteht.
Interpretation
Das Gedicht spiegelt ein tiefes existenzielles Ringen um die eigene Identität wider. Bonhoeffer stellt sich die Frage, die viele Menschen in Extremsituationen beschäftigt: Wer bin ich wirklich? Dabei zeigt er, dass oft eine Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung von außen und der inneren Realität besteht. Diese Unsicherheit wird durch seine Gefangenschaft und die ständige Todesgefahr noch verstärkt.
Am Ende des Gedichts deutet Bonhoeffer jedoch eine mögliche Antwort an: Er gehört zu Gott. Trotz all seiner Zweifel findet er in seinem Glauben Halt und Sicherheit. Gott kennt ihn, selbst wenn er sich selbst fremd bleibt.